Wenn schon ein Geburtstermin nicht punktgenau vorauszusagen ist, vom Wetterbericht der nächsten 14 Tage ganz zu schweigen – wie kann man dann über das kommende Jahrzehnt reden? Zukunftsforscher*innen bedienen sich dafür unter anderem sogenannter Megatrends. Das sind langfristige gesellschaftliche Entwicklungen, die bereits begonnen haben und sich wahrscheinlich in die Zukunft hinein fortsetzen. Damit sind sie relativ verlässliche Vorboten dessen, was kommt.
Globalisierung, Individualisierung und neue Formen der Mobilität sind solche Megatrends, aber auch der demografische Wandel oder Modernisierungen im Gesundheitssektor. Und damit eben auch in der Geburtshilfe. Bereits auf dem Hebammenkongress 2019 referierte die Trendforscherin und Autorin Oona Horx-Strathern darüber, wie aktuelle Megatrends die Hebammenarbeit künftig beeinflussen werden und welche Herausforderungen uns alle erwarten (PDF-Dokument). Diese Diskussion setzen wir beim Zukunftsforum fort.
Die voranschreitende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche ist für uns schon so alltäglich, dass wir sie kaum noch als Megatrend wahrnehmen. Sie geht auch an der Geburtshilfe nicht spurlos vorbei. Digitalisierung verändert, wie wir Informationen sammeln, verarbeiten und bewerten, sie schafft neue Zugänge zu Dienstleistungen und verlagert viele davon ins Virtuelle.
Diese Entwicklung hat sich unter dem Einfluss der SARS-CoV2-Pandemie noch einmal beschleunigt: Online-Angebote für Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt werden schon heute stark nachgefragt. Es sind kurzfristig gut zugängliche und niedrigschwellige Angebote entstanden, die Schwangeren die Möglichkeit bieten, die Angebote ihren derzeitigen individuellen Bedürfnissen anzupassen.
Doch wie kommunizieren werdende Eltern im Jahr 2030? Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz? Wird uns Alexa künftig sagen, wie es dem Baby gerade geht? Kurzum: Werden Hebammen also abgeschafft? Im Gegenteil: Forscher*innen sind überzeugt, dass zutiefst menschliche Berufe auch in Zukunft dringend gebraucht werden, Hebammenarbeit wird also per se nicht durch digitalisierte Arbeit ersetzt. Trotzdem können digitale Angebote die Arbeit, z. B. im Bereich Qualitätsmanagement, erleichtern, Informationen können schnell abrufbar im Internet zur Verfügung stehen. Die Frage im Angesicht von sich immer dynamischer bewegenden Technologien ist also: Wie kann die Digitalisierung die Arbeit der Hebammen und damit auch die gesamte Geburtshilfe bereichern?
Unsere Biografien verändern sich. Galt noch vor 50 Jahren eine frühe Heirat, ein lebenslanger Job und eine Verwurzelung am Heimatort als Ideal, leben wir heute viel fragmentierter. Neue Formen der Arbeit, ein stärkerer Drang zur individuellen Lebensgestaltung und eine Vielzahl an Lebenswegen, die uns offenstehen, wirken sich auch auf die Familienplanung aus.
Immer mehr Frauen entscheiden sich erst spät für ein Kind – seit 1990 hat sich die Zahl der Erstgeburten bei Frauen über 40 Jahren vervierfacht. Neue politische Rahmenbedingungen ermöglichen neue Varianten der Elternzeit und bunte Familienkonstellationen. Das vorsorgliche Einfrieren von Eizellen, „Social Freezing“ genannt und in manchen Ländern bereits vom Arbeitgeber finanziert, kann der Karriere mehr zeitlichen Spielraum verschaffen.
„Traditionelle“ Familienbilder und ehemals „feste“ Familienbande lösen sich auf. Gleichgeschlechtliche Paare, Patchworkfamilien und Kinder mit mehr als zwei Eltern sind mittlerweile alltäglich. Es entwickeln sich neue Familienformen. Das Konzept „Familie“ ist aber eine wichtige Orientierungshilfe bei der Bewältigung der Familiengründung. Hebammen brauchen daher Diversity-Kompetenz. Für eine „frauenzentrierte Geburtshilfe“ sind die familiären Konzepte der begleiteten Frau wichtig, denn sie ist heute immer Mittelpunkt eines komplexen, vielschichtigen familiären Zusammenhangs.
Die Möglichkeiten der reproduktiven Medizin erweitern sich ständig. Das sind Chance und zugleich Herausforderung für die Frau. Themen wie Leihmutterschaft, späte Mutterschaft und Schwangerschaft, Egg-Freezing und Selektion sind gesellschaftliche Themen und beeinflussen im hohen Maße das Erleben der Frau im Kontext Schwangerschaft und Geburt. Gibt es das „perfekte Baby“?
Nicht in jedem Lebensbereich geht der Trend zur Technisierung. Seit den 1970er-Jahren gibt es Versuche, die Geburt vorauszuplanen und den optimalen Termin dafür medizinisch zu ermitteln, durch den Einsatz immer neuer Technik. Studien zufolge senken solche „programmierten Geburten“ das Risiko für Komplikationen.
Immer mehr Frauen jedoch wollen eine selbstbestimmte, natürliche Geburt. Sie vertrauen darauf, dass ihr Kind das Startsignal gibt, und wünschen sich, den Geburtsort frei wählen zu können, ob nun Klinik, Zuhause oder eine der vielfältigen Alternativen. Die Aufklärung und Beratung, die Hebammen dafür leisten, wird in Zukunft noch wichtiger werden – und auch die Notwendigkeit für eine hohe Versorgungsqualität wird weiter steigen. Die Akademisierung unseres Berufs bietet hier die Chance, Kompetenzerwerb und Weiterbildungen zukunftsfähig zu gestalten.
Ökonomisierung wird häufig als Widerspruch zu einer guten, frauenzentrierten Geburtshilfe verstanden. Hierin liegt ein gesellschaftlicher Auftrag: Ökonomische Interessen dürfen den Interessen der Frauen/Patient*innen nicht schaden. Schwangere haben das Recht auf eine freie Wahl des Geburtsortes, müssen unabhängig von Zeit und Kosten mitentscheiden dürfen, welchen Weg die Geburt ihres Kindes nimmt.
Die seit mehreren Jahren vorangetriebene Zentralisierung der Geburtshilfe in Perinatalzentren und die damit einhergehende Schließung kleinerer, aber wohnortnaher Kreißsäle kann zu einer geburtshilflichen Unterversorgung in immer mehr Regionen Deutschlands führen. Die freie Wahl des Geburtsorts wird somit sehr erschwert und ist ein Faktor, der den individuellen Gestaltungsspielraum der Frauen einschränkt. Es zeigt sich, dass durch die Zentralisierung Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft als primär natürliche, gesunde Phänomene ins medizinische System überführt werden und das Wissen um die Physiologie der Geburt in den Hintergrund rückt.
Migration, Flucht und Vertreibung sind Themen, die unsere gelernten Gesellschaftsstrukturen verändern. Frauen und Familien, die von Hebammen begleitet werden, haben oft ein sehr diverses, durch biografische und lebensweltliche (z. B. Flucht) Ereignisse geprägtes Verständnis von Schwangerschaft und Geburt. Wenn das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung stets im Fokus stehen soll müssen wir fragen: Wie können wir dem gerecht werden? Welche Kompetenzen brauchen wir? Wo und wie wird das die Geburtshilfe verändern und bereichern?